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Ode an einen Baum

Wieviele Jahre beobachtest du wohl schon die Ostsee von deinem Aussichtspunkt auf der Steilküste? Als kleiner Baum konntest du sie vielleicht noch gar nicht sehen, warst umgeben von lauter größeren Bäumen, die den stürmischen Seewind in ihren Blättern fingen, um dir eine geschützte Kinderstube zu schenken. Je größer du wurdest, desto selbstbewusster konntest du Unwettern und Sonne trotzen. Eine salzige Brise raschelte sanft in deinem Laub, streichelte über deine Krone: „Was bist du schon gewachsen!“ Die Jahre vergingen und die Kante der Steilküste rückte näher, die Bäume um dich herum lichteten sich, sodass immer mehr Meer in dein Blickfeld kam. Die ersten Schwärme von Wasservögeln im Frühling, die abschiednehmenden Gänse auf dem Weg in den Süden im Herbst, alles durch dich bezeugt. Zu deinen Füßen eine Mulde, genau passend zum Rücken eines müden und dankbaren Wanderers auf der Durchreise, von dir eingeladen, deinen Ausblick zu teilen.

 

Auch ich saß dort im Abendlicht, weiter Blick aufs Wasser, eingehüllt von Frieden, der dich umgibt, geschützt von dir wie ehemals du von all deinen Baumgroßeltern. Inzwischen trennen dich nur noch wenige Meter vom Abgrund. Hast du manchmal Angst vor der Sturmnacht, die dich hinwegreißen könnte? Oder träumst du gelegentlich schon sehnsüchtig davon, das Meer zu berühren, einzutauchen in das tiefe Blau? Liebevoll fahre ich mit der Hand über die Rinde von einem deiner vielen verzweigten Äste, wehmütig betrachte ich die vielen Knospen, die in wenigen Tagen den Winter mit einer Blütenpracht verabschieden werden. Ich sehe mich, wie ich im Sommer wiederkehre, mich unter dein üppiges Blätterdach vor der Hitze flüchte. Vielleicht werde ich im Herbst im goldrot raschelndem Laub sitzen und die Möwen im Sturzflug kreischen hören. Und im Winter durch den Schnee stapfen und dich hoffentlich noch hier finden, träumend und in dich zurückgezogen. 

 

Eine Kohlmeise reißt mich wild zeternd aus meinen Gedanken. „Ihr Menschen, alles wollt ihr für immer haben, verrückt, verrückt!“ Entrüstet fliegt sie davon und ich schmiege mich etwas ertappt tiefer in meine gemütliche Sitzmulde, sehe die Sonnenstrahlen auf dem Meer zur rollenden Wellenmelodie tanzen. Wie umarmt von dir, gehalten und sicher in diesem Augenblick, die Ewigkeit leicht salzig auf meiner Zunge. 

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