Nicht „wer bin ich“, sondern „wer möchte ich sein“. Nicht mehr den alten Einflüssen hoffnungslos ausgeliefert sein, sondern kraftvoll ganz neue Wege wagen. Alles anders machen? Ich beobachte, wie Angst aufsteigt, merke, wie der Puls steigt, die Hände schwitzig werden. Was passiert, wenn ich nicht mehr so bin wie bisher, werden die Menschen in meinem Leben mich nicht mehr erkennen? „Pass bloß auf, du wirst alles verlieren!“ zischt die Angst bedrohlich und haucht kalten Atem in meinen Nacken und mein Herz. Langsam drehe ich mich um, erwarte ein riesiges Monster hinter mir, das sich auf mich stürzt, und dann... ist es nur ein kleines Mädchen, ganz winzig neben einer Kerze, deren Licht von der Kindergestalt aus einen riesigen Schatten wirft, der mich völlig verschluckt. „Mach das nicht, niemand wird uns mehr liebhaben“, flüstert sie ganz leise. Hinter ihr tauchen weitere Kinder auf, vertraute Gesichtszüge, obwohl ich sie nur von alten Fotos kenne. Mitgefühl überflutet mich, jetzt wo ich sehe, was für ein Erbe wir tragen, sie und ich und alle, die ihre Reise vor uns begonnen haben. Streiflichter von Erlebnissen aus all diesen Schicksalen steigen vor meinen Augen auf, verschwinden wieder, sind sich merkwürdig ähnlich. Ja, es ist höchste Zeit für eine neue Geschichte, einen Neuanfang. Ich setze mich neben die Kinder und beginne zu erzählen:
"Es war einmal eine Zeit, wo man der Liebe nicht hinterherlaufen musste, wo sie sich nicht ängstlich im Unterholz des Waldes versteckte, sondern ein wildes, freies, stolzes Wesen war. Die Menschen waren beseelt von ihr, großzügig floß die Liebe zwischen ihnen hin und her und niemand kam auf die Idee, seine Zuneigung hinter Schutzschilden zu verstecken. Jeder wusste, dass die Liebe immer im Überfluß vorhanden war und man sich nicht an Menschen festhalten musste, um die Liebe in seinem Leben zu halten. Nein, die Liebe war wie ein Meer, im ewigen Rhythmus wogte sie hin und her, zog sich aus dieser einen Verbindung zurück wie bei Ebbe, kehrte dann aber aus einer anderen Richtung als gewaltige Flut wieder zurück, schöner und fließender als zuvor. Nun wurden es aber immer mehr Menschen auf der Welt und eines Tages kam das Gerücht auf, dass nun die Liebe nicht mehr ausreichen würde, dass sie nicht mehr alle nähren könnte. Was, wenn das stimmte? Wenn man ab nun sehr aufpassen musste, dass man seine Liebe nur an die richtigen Personen weitergab? Jeder begann, ängstlich danach zu schauen, nicht zuviel von diesem wertvollen Lebenssaft zu verschwenden, immer penibel zu messen, ob von anderen auch wirklich genug zurückkam. Einige begannen sogar, gar keine Liebe mehr zu verschenken, in dem Glauben, die Liebe im eigenen Herzspeicher sicher verwahrt zu haben. Und so wurden langsam die Ströme der Liebe immer kraftloser und matter, bis sie schließlich nach und nach versiegten. Die Menschen wurden krank und verrückt, fingen an, sich mit ihren Nachbarn zu streiten und unter Liebe wurde das Besitzen anderer Menschen verstanden. Wenn man Liebe lernen wollte, ging man ins Kino, aber das führte zu noch mehr Schmerz und Einsamkeit. Jeder hatte Angst, nicht geliebt zu werden, nicht gut genug für die Liebe aus den Filmen zu sein.
Und dann gab es da diesen einen Menschen, der sich eines Tages ans Meer setzte, die Bewegung der Wellen beobachtete und plötzlich einen kleinen Funken in seinem Inneren spürte, eine Erinnerung, ganz vage und schwach. Er saß da, sah, wie das Wasser heranrollte und sich dann wieder entfernte, wie es in ihm ganz still wurde, je tiefer er in den Rhythmus der Wogen eintauchte. Überrascht bemerkte er auf einmal, dass er nicht mehr allein war, die Liebe hatte sich unbemerkt neben ihn auf den Stein geschmiegt, noch schwach und etwas schüchtern. Er nahm sie in den Arm, besorgt darum, ihre zarte Gestalt nicht zu fest zu halten, ihr Raum zum Wachsen zu geben. Die Berührung weckte ein uraltes Wissen, das lange in ihm geschlummert hatte, von dem er bisher nichts ahnte. Wärme durchfloß seinen Körper, wie an einem Tag voller Sonne zum Ende des Winters. Eine Verheißung, dass nichts so bleiben wird, wie es war, dass die Zeiten sich ändern. Und so machte er sich auf, ohne den Weg zu kennen, nur mit einer tiefen Gewissheit, dass überall auf der Welt Menschen an Ozeanen sitzen.“
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Marco (Dienstag, 16 Mai 2023 11:18)
Hat mich berührt!